Der Abend

Aufzeichnungen aus einem Traumzimmer

 

Titel: Der Abend
Untertitel: Aufzeichnungen aus einem Traumzimmer
Autor: Toralf Sperschneider
Illustrationen: Daniel Blochwitz
Erschienen: 2004, Eigenverlag (MoonWing)


Info/Inhalt:
»Der Abend« beschreibt rückblickend den Verlauf eines einzigen – des Heiligen – Abends aus Sicht eines Kindes, eines Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Diese Erinnerungen gehören stets ein und derselben Person und ihrem veränderten Blickwinkel über das Älterwerden hinweg.
Die Handlung zeigt den immer gleichen Ablauf der Heiligen Nacht – alle Jahre wieder – mit seinen Gefühlen, Sichtweisen und Entwicklungen in großen Zeitsprüngen ohne Chronologie.
Am Ende steht die Geburt einer neuen Generation, die »Den Abend« in ihrer Weise weiterleben wird…

Gewidmet:
Den Verschwundenen
Den Gebliebenen
Den Kommenden

Vertrieb:
Einzelne Restexemplare aus zweiter Auflage vorhanden. Kein Verkauf.

Textauszüge

Manchmal, wenn ich mit meinen Gedanken von der Gegenwart in die Vergangenheit aufbreche und kleine Ausflüge in die Zeit unternehme, mache ich dabei meine Reise- oder besser Gedankenaufzeichnungen. Ich zeichne, male, skizziere ein wenig von dem, was sich in meinem Gedächtnis von diesem Abend, dem Heiligen Abend, abbildet. Ich bin schlicht und einfach ein Dieb, ein Fälscher, ich kopiere die Dinge nur, die in Wirklichkeit so wunderbar oder so schrecklich sind. Das Einzige, was wirklich von mir ist, sind diese kleinen Färbungen, die in meinen Abzeichnungen die Realität ein wenig umgestalten, zum Teil verwischen, aber auch in einer bestimmten Art und Weise klarer und schärfer machen.

In all den Jahren, in denen mich die egoistische Zeit nun schon Stück für Stück absorbiert und wieder älter ausgeschieden hat, mit dieser immer schneller werdenden Stetigkeit, hat sich doch von Anfang an eine Insel mit verschwimmenden Erinnerungen aufgetan, die immer wiederkehrender Angelpunkt und so etwas wie ein Déjà-vu unserer Familie geworden ist. Und jedes Jahr arbeiten wir alle hart daran, wieder in diesen Zeitsprung hinein zu geraten, kurz vom Strudel erfasst und dann ausgespuckt zu werden, hinein in die Weihnachtsschleife.


Wir lieben den Strom der Melancholie, der uns packt und ein wenig mitnimmt, um den blasser werdenden Erinnerungen neue Schärfe einzuhauchen an die, deren Verschwinden wir noch immer nicht verstanden haben. Denn für einen kurzen Augenblick im Laufe dieses Abends sind sie alle bei uns, winken uns zu und berühren uns aus der Vergangenheit. Und wir spüren ihre Umarmung und ihren Geruch, hören ihre Stimmen, die „Frohe Weihnacht“ flüstern.
Es ist immer wieder faszinierend, mit welcher Beharrlichkeit sich eine gewisse Reihenfolge der Vorbereitungen und Stimmungen etabliert hat. Manchmal kommt es mir vor wie ein Krippenspiel, ein Ritual, in dem jeder seine Rolle mit den entsprechenden Aufgaben übernimmt.


In meiner unbeschwert bunten, wie Gummi ausgedehnten Kindheit war das erste Signal ein Glöckchen, angeblich vom Christkind selbst geläutet, während ich in der ersten Reihe mit großen Augen vor der den ganzen Nachmittag verschlossenen Wohnzimmertür stand. Es muss so etwa gegen sechs oder sieben Uhr abends gewesen sein, ich war herausgeputzt und auch all die anderen hatten einen feinen Zwirn angelegt, wie es sich zum Fest gehörte. Selbst die Wohnung, ja das ganze Haus glänzte in geschmückter Reinlichkeit. Über mindestens ein bis zwei Tage zuvor waren Besen, Schrubber, Staubsauger, Wisch- und Staublappen unermüdlich geschwungen worden, um es sowohl uns selbst als auch dem Herrn bei seiner Ankunft auf Erden so angenehm wie möglich zu machen.


Im Dunkel des Flures ließ der schmale Spalt zwischen Tür und Schwelle bereits Großes ahnen. Wenn noch keiner hinsah, versuchte ich aufgeregt auf den Zehenspitzen durch das Schlüsselloch zu spähen; wenn einer der Erwachsenen nochmals aus unerklärlichen Gründen hinein musste und dann für einen winzigen Augenblick das Zimmer eine Vorahnung seines Strahlens auf mich warf, verspürte ich eine unermessliche Lust mit hindurch zu schlüpfen und mich schon vorher darin zu baden. Und dann, nach dem rätselhaften Schellen, heraus aus dem gewohnten kalten, elektrischen Licht der übrigen Zimmer, wenn sich die geheimnisvolle Pforte langsam öffnete, ergriff und umspülte mich mit dem Betreten des Raumes das Leuchten. Der warme Glanz sog mich mit heller Vorfreude auf, und obwohl ich hier jeden Winkel kannte, schien doch alles strahlend neu und voll mit einer ganz anderen Harmonie zu sein. Es war, als käme man in seinem eigenen Zuhause heim.


Während eigentlich nur unsere Großeltern über eine tief im Langzeitgedächtnis ruhende Textsicherheit verfügten und diese in den leider nicht mehr so sicheren Stimmlagen und Tonhöhen zum Ausdruck brachten, versuchte ich, nachdem ich des Lesens mächtig wurde, die korrekte Fassung der Weihnachtslieder vom Notenblatt her korrigierend einzubringen. Kraftvoll schmetterte ich rechts neben meiner Mutter stehend Zeile für Zeile unseren Omas entgegen, die sich mit ihrem deutlich über seiner Halbwertzeit befindlichen Wackel-Sopran redlich behaupteten. Mittendrin postiert vereitelten mein Bruder und mein Vater mit ihren weichen Bässen häufig Schlimmeres, wobei gelegentlich einzelne Stimmen vollständig ausfielen und sich nach späterer Einigung über die Lyrik wieder dazu gesellten. Zwischen dieser wunderbaren Mischung verschiedenster Varianten unserer Lieder, die übereinander geklebt durch den Raum schwangen, huschten Bruchteile verschmitzten Lächelns zwischen Mund und Augen meines Bruders und mir hin und her.
Und „Oh du Fröhliche“ kannte keine Gnade; der „Tannenbaum“ vom letzten Jahr musste sich im Grabe umdrehen und der Diesjährige erzittern, hätte er Ohren gehabt, all die grob geschliffenen Varianten seiner Huldigung zu hören. Aber alles blieb einzigartig wie jedes Jahr, und wir gelangten zu den Glocken, die süßer nie klingen. Hätten sie uns doch nur unterstützt…


Doch die Kindermägen waren angesichts der Tatsache einer folgenden Bescherung schnell gefüllt und die Augen stetig zum Flügel gerichtet, wo die Geschenke lauerten. Große Erwartungen sind bisweilen fabelhafte Appetitszügler. Aber es gab kein Erbarmen, wir mussten geduldig sein und in der Folter der Festtafel ausharren. Immer wieder wurde von den Erwachsenen ein weiteres Häppchen für gut befunden, noch verspeist zu werden, und noch eins, und noch eins…


Ohne Zweifel wäre ich als Kind oft gerne auch mit daheim geblieben und hätte den abendlichen traditionellen Kirchenbesuch verweigert. Schließlich galt es, das eine oder andere Geschenk zu bewundern oder seine Funktionstüchtigkeit zu prüfen. Aber mit den Jahren freute ich mich doch auf den Kirchgang, was nicht zuletzt an dem etwas senilen Entertain-Vermögen unseres verehrten Herrn Pfarrers lag, der sich doch jedes Jahr für meinen Bruder und mich etwas ganz Besonderes und Lustiges ausgedacht hatte, so dass wir glaubten, er habe es zu katholischen Werbezwecken einstudiert.
Als später nicht mehr er, sondern ein doch ernst zu nehmender Nachfolger unter dem adulten und kreuzweise aufgespannten Herrn Jesus die Showbühne betrat, waren wir anfangs ein wenig enttäuscht. Aber schon bald stellte sich heraus, dass es auch im Gotteshause Schäfchen gab, die durchaus eine unverbohrte und kritische, ja philosophisch nachdenkliche Predigt zu halten im Stande schienen, ohne diese an Gleichnissen herbei prügeln zu müssen.


Der Kirchenbesuch gehörte irgendwie immer mehr dazu, und ich ertappte mich dabei, mich auch auf ihn als Teil des Abends zu freuen. Wenn der Leib Christi verspeist und die Spendenkörbchen umhergegangen waren und uns dann die „Stille Nacht“ weit nach elf, von Orgel und Glockenläuten unterstützt, freundlich wieder in die winterkalte Nacht hinaus sandte, machten wir stets den Umweg zu dem Kripplein neben dem Altar. Dort lag, zwischen Moos und Tannenzweigen der kleine Jesus in Leinen gehüllt und um ihn scharten sich seine Eltern, die Hirten und Tiere. Er blickte aus der Wiege geradewegs in einer Linie auf sich selbst und sein Schicksal am Kreuze hinüber. So wurden uns drastisch Alpha und Omega des Heilands auf engstem Raume vor Augen geführt und ich war immer wieder froh, diese Strecke des Lebens von Weihnachten bis Ostern bei mir selbst nicht so dramatisch auf einen Blick serviert zu bekommen. Dank sei Gott für unsere Ahnungslosigkeit!


Währenddessen starrte irgendwo auf dem Friedhof eine Kerze mit ihrem besonnenen Licht einen Grabstein an. Wir hatten uns vielleicht eine Stunde vor dem Öffnen der geheimnisvollen Wohnzimmertür in der tiefen Dunkelheit des abendlichen Winters zu ihm aufgemacht, immer dann, wenn daheim alles fertig vorbereitet schien. Jahr für Jahr, immer wieder in dieser Zeitschlaufe, mit vermischten Erinnerungen an ein und denselben Abend, stehen wir, die gebliebenen Sperschneiderlein bei den Verschwundenen und zünden ihnen ein Licht an, um zu zeigen, wie sehr wir bei ihnen sind. Das Flämmchen flackert tapfer die ganze Nacht als eine Verbindung in das warme Traumzimmer, welches ich hier gezeichnet habe. Meine Aufzeichnungen werden die vergangenen und wiederkehrenden Traumzimmernächte zu einem Bild verweben. Doch die kommenden Eindrücke wird jemand anders - mit seinen Farben - festhalten. Dafür gebe ich den Stift aus der Hand und reiche ihn weiter, denn just in diesem Jahr wird uns ein Kindlein geboren...