Das tapfere Vorsteherlein

Titel: Das tapfere Vorsteherlein
Untertitel: Ein Spärchen
Autor: Toralf Sperschneider (SPETO)
Illustration: Prof. Paul Komminoth
Aufführung: 2009, »Lake Side«, Zürich
Erschienen: Broschiertes Skript im Eigenverlag (MoonWing), ausverkauft


Überschrift

Info/Inhalt:
Eine theatralische Lesung, inszeniert und aufgeführt in gekürzter Fassung von drei Betroffenen – den Gebrüdern Schlimm - anlässlich der Jahres- und Weihnachtsfeier der Pathologie des Universitätsspitales Zürich. Reflexionen aus Märchen-, Arbeits- und anderen Wechselwelten, vom (Instituts)Vorsteher, seiner Königin, einem Flaschengeist, Unterweltbewohnern, Drachen und anderen Fabelwesen aus dem Reich der Pathognome....


Danksagung:
In enger Zusammenarbeit bei der Ausführung und mit großem Dankeschön an den Rest der
GEBRÜDER SCHLIMM
Polenmunkpeter (Karl Peter Bode)
Molliver (Marc-Oliver Riener)
und die Support-Sisters
RAMCO (Constanze Ramach)
STECO (Corinna Steinbrech),
Des Weiteren gebührt der Dank meinem ausdauernden und kritischen Zuhörerlein
Christiane Tresselt & Herrn Professor Paul Komminoth

Für die wirklich wunderbare Karikatur zur Gestaltung des Werbeflyers und des Frontbildes Gepriesen sei der inspirative Ideensalat mit Zutaten der Gebrüder Grimm, Wilhelm Hauffs und anderer Märchenfrauen und -männer, sowie des gesamten USZ-Pathologie-Teams und von meinem hochverehrten Walter Moers

Zum Text (extra breite Version) ...

Es war einmal ein kleines Vorsteherlein. Es lebte in bescheidenen Verhältnissen im fernen Königreich Bal. Es hatte eine hübsche Braut und eine süße Tochter, mit denen es in einer kleinen Hütte nahe dem Flusse wohnte und verdingte sich seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Publikationen, Artikeln und Papern. In seiner Zunft galt es als fleißiges Mitglied. Es war von edler Gestalt, erreichte jedoch keine überschüssige Körpergröße und seine Augen glänzten übermütig verschmitzt und doch ehrfurchtsvoll.
Eines Tages jedoch erkrankte die Braut des Vorsteherleins an einem unbekannten Leiden. Heftiges Fieber schüttelte das arme Ding, sein Antlitz verfärbte sich blau, die Ohren verlängerten sich zu flatternden Dackelohren und kleine orange Hühnerfüße wuchsen aus dem Kopf. Das Vorsteherlein wusste nicht mehr ein noch aus und es fehlte an Geld, um einen Doktor oder Quacksalber zu bezahlen. Es weinte bitterlich und mit der Zeit flog auch die Kreativität wie die Blätter im Herbstwind davon. Sämtliche Artikel wurden abgelehnt und es ging von bösen Zungen das Gerücht um, dem Vorsteherlein sei der Paperspeiende Esel gestohlen worden. Keiner ahnte, dass mit dem Schmerz und dem Kummer um die liebe Braut ein Teil der Fähigkeit zur Forscherei verloren gegangen schien. Sein munteres ‚When and where can we publish?’ wurde jäh vermisst in den Schreibstuben, Progress Reporten und Laboren.
Die orangen Hühnerfüße auf dem Kopf der lieben Braut verhärteten sich allmählich, so dass sie kaum mehr liegen konnte und sich nur noch mit darüber gestülpten Lockenwicklern auf die Gasse traute, um gelegentlich frische Luft zu schnappen. Das Herz des Vorsteherleins krümmte sich in tiefer Sorge und sein Antlitz, in dem man früher eine Leidenschaft hatte brennen sehen können, war aschfahl geworden.
Eines Abends, es war kurz vor Mitternacht, trug es sich zu, dass das kleine Vorsteherlein am Herde saß, um einen Tee zu kochen. Die Flammen fanden ihren Widerschein in seinem Gesichte, als es mit seinen blinzelnden, müden Äuglein gedankenlos hinein starrte. Auf einmal züngelte ein Flämmchen bläulich zischend aus dem Feuer heraus, spie eine Rauchwolke in die kleine, ärmliche Stube und das Vorsteherlein schreckte aus seinem Halbtraum auf. Es sah, wie sich auf einmal aus der blauen Flamme ein Gesicht abzeichnete und wenig später ein ganzes Männlein daraus erwuchs. Es trug ein altes braunes Jackett und gelbe Cordhosen, paffte einen dampfenden Zigarillo und hatte schlohgelbes, seichtes Haar. Unter den lang gezogenen, fast gezwirbelten Augenbrauen lugten zwei weise, kluge Augen keck hervor.
„Nun“, sprach es mit rauchiger, markanter Stimme, „traurig siehst du aus, kleines Vorsteherlein. Ich beobachte dich schon eine Weile hier aus dem Feuer und kann es kaum mehr mit ansehen, wie du dich quälst.“
„Woher kennst du meinen Namen und wer bist du eigentlich?“ fragte, fast ein wenig erschrocken über seinen eigenen Mut, das Vorsteherlein.
„Ich bin das Mihatschilzchen“, antwortete das Männlein, tief an seinem Zigarillo paffend und schwebte vom Herd hinüber in den alten Lehnstuhl, um sich dort nieder zu lassen. „Ich bin ein Geist aus dem Geschlecht der Tubuloglomerulaner von Nephromanien. Du hast viel über unsere Weisheiten herausgefunden und veröffentlicht, auf das andere damit arbeiten können. Ich stehe somit ein wenig in deiner Schuld.“
Das Vorsteherlein rieb sich die Augen, sah ungläubig abwechselnd zum Herde, auf dem das Teewasser brodelte, hinüber zu seiner schlafenden Kranken und wieder zu dem Männlein, das grinsend im Sessel hockte.
„Wa wa wa“, stotterte das Vorsteherlein „Was hast du gesagt?“
„Jetzt krieg dich mal wieder ein und sprich ordentlich. Hast du mal Feuer?“ Dem Männlein war der Zigarillo ausgegangen. Das Vorsteherlein stand auf und ging hinüber zum Herd, um Feuer zu holen. Es zündete dem Männlein die nächste Kippe an und goss ihm einen Blasen- und Nierentee auf.
„Hm, köstlich, der beste Tee der Welt!“
„Ein bisschen Zucker?“ fragte das Vorsteherlein und beruhigte sich allmählich ob der eigenartigen Erscheinung. Das Männlein winkte ab, murmelte etwas von Diabetes und wies dem Jüngling, sich zu setzen.
„Pass auf, ich habe wohl bemerkt, dass deine Seele sehr krank ist, wegen des Kummers um deine süße Braut und du nichts mehr veröffentlichen kannst. Auch deine damalige Aktion mit dem Sophie-Paper kann daran nichts ändern.“
Das Vorsteherlein gedachte an die Zeit, als es das Sophie-Paper trotz und in der gleichen Nacht der Geburt seines Kindes geschrieben hatte. ‚Vielleicht hab ich es seinerzeit doch ein bisschen übertrieben’, dachte es bei sich. Die Kleine schlief drüben in der Wiege seelenruhig und leises, zufriedenes Schmatzen drang dann und wann an sein Ohr.
„Es ist so“, begann das Mihatschilzchen, „Vermutlich ist deine Braut von einer seltenen Krankheit befallen. Einst hatte ich mich mit einem Organ, welches Zimpfe genannt wird, beschäftigt - da sie so nahe bei Niere und Milz herum liegt. Aber dann habe ich das Interesse verloren, da die Zimpfe als völlig wertloses Rudiment gilt. Außer, wenn sie sich entzündet! Aber das ist extremextremomatös selten und daher interessiert sich keine Sau oder Pharmafirma dafür. Wir haben alle Forschungsarbeiten eingestellt. Möglicherweise...“, das Männlein machte eine bedeutungsvolle Pause, um endlich wieder an dem Zigarillo ziehen zu können und richtete den Zeigefinger wie ein Ausrufezeichen auf, „möglicherweise leidet dein Schätzchen da drüben an einer Zimpfomatose.“
Mit einem Male erfüllte eine traurige Stille die Stube.
„Zimpfomatose?“ flüsterte das Vorsteherlein, ohne überhaupt zu wissen, was sich dahinter verbarg. „Ja, du hast schon richtig gehört. Die Dackelohren, die orangen Hühnerfüße - irgendwie kommt mir das bekannt vor. Aber ich bring es einfach nicht mehr zusammen. Ich weiß jedoch jemanden, der dir vielleicht helfen kann!“
„Wer?“ platzte es aus dem Vorsteherlein ungeduldig heraus, „Bitte sagt mir, wer uns helfen kann. Ich gebe dir...gebe dir...äh... .“ Das Vorsteherlein verstummte und merkte, dass es nicht viel zu geben hatte.
„Na?“
„Ich weiß nicht recht. Eigentlich hab ich nicht viel und das befindet sich an der unteren Obergrenze von Nichts. Was verlangst du?“ fragte das Vorsteherlein ängstlich.
„Heute back ich, morgen brau ich und übermorgen...“, schrie das Männlein.
Voller Schrecken weiteten sich angsterfüllt die Augen des Vorsteherleins. Es kannte den Spruch...
„Haha, keine Panik, war nur ein Scherz. Dein Kind kannst du behalten. Den Quatsch hat nur mein Ururopa mal mit so ’ner dumm-naiven Müllerstochter veranstaltet und sich dann blöderweise vor Ärger zerrissen. Ich hingegen“, und er machte eine großspurige Pause, „ich hingegen will nichts anderes als...bei deinen nächsten sieben Publikationen in einem Journal mit Impact Factor über 20 an erster Stelle der Autorenliste stehen.“
„Äh, nennst du das in meiner Schuld stehen?“ fragte das Vorsteherlein vorsichtig.
„Ich kann auch wieder im Feuer verdampfen...“, antwortete das Männlein, einen tiefen Zug einatmend.
„Nein, nein, war nicht so gemeint“, rief jetzt der Unterlegene und die Tränen stiegen ihm die Lider empor. Als es zu weinen begann, erweichte sich das Mihatschilzchen, trat zu ihm heran und sprach: „Nun gut, ich will mal nicht so sein. Sagen wir Impact Factor 5. Also hör zu: In einem fernen Königreich mit Namen Chirüz liegt, abgelegen über einem schillernden See und hoch oben auf dem Schmelzberge thronend, die geheimnisvolle Müsliburg. Ich habe gehört, dass dort nun schon seit geraumer Zeit die Pathognome hausen, die sich seit jeher der Entdeckung, Aufzeichnung und Einteilung von Krankheiten widmen. Es gibt Vermutungen, dass sie selber eine Krankheit sind, die versucht, Krankheiten krank zu machen, was sich ja schließlich dann wegkürzt und...na ja, ich will es nicht komplizierter machen als es ist, für dich reicht der Rest. Nur wenige wissen überhaupt von diesen Pathognomen, was und warum sie all das tun. Jedenfalls ist ihre Königin eine Art gute Fee mit Namen Erzea. Sie, und nur sie besitzt ein geheimnisumwobenes Buch, ein umfangreiches Sammelwerk pathologisch-anatomischer Studien. Dieses Buch trägt den Namen ‚Sepulchretum’. Keiner weiß mehr genau, wer es geschrieben hat. Es heißt jedoch, die Pathognome haben einen großen Teil ihres Wissens durch schaurige Dinge erlangt, in dem sie in einem ‚Theatrum Anatomicum’“, er stockte kurz und schluckte, „Leichen eröffneten.“
Das Vorsteherlein erschrak und schlug die Hände vor dem Mund zusammen. „M...Mm...Mmmmuss das sein? Gibt es keine andere Möglichkeit, vielleicht...“
„Nein!“ donnerte da das Mihatschilzchen, „wenn du den Mut dazu nicht hast, ist deine Braut vielleicht für immer verloren!“
Nun trat Ruhe ein. Die kleine Braut des Vorsteherleins blinzelte aufgeschreckt von ihrem Bette herüber, sah aber nur ihren Mann auf den leeren Sessel neben dem Herd starren. Sie drehte sich langsam und unbesorgt um, da sie doch von seinen gelegentlichen Phantastereien wusste.
Das Vorsteherlein dachte angestrengt nach. Es blieb ihm nichts anderes übrig und obwohl es ängstlich in diese Zukunft blickte, trank es doch die hoffnungsvollen Worte und Angaben des Männleins wie einen lange ersehnten Schluck trefflichen Weines.
„Einverstanden. Ich mache mich auf den Weg zur Müsliburg.“ Das Mihatschilzchen lächelte weise und nickte dem Vorsteherlein gütig zu.
„Gib das hier deiner Braut und deinem Kinde, damit werden sie solange wohlbehütet schlafen, bis du wiederkehrst.“ Er reichte ihm ein Beutelchen mit Kräutern. „Gieß es mit dem Teewasser auf. Und dann geh schlafen, auf das du morgen mit frischen Kräften in aller Frühe aufzubrechen vermagst. Nun spute dich!“
Mit einem Male begann das Männlein wieder zu einer Flamme zu werden, sein Jackett und seine Cordhose färbten sich blau und es konnte sich gerade noch schnell einen neuen Zigarillo anstecken, bevor es, so plötzlich wie es gekommen war, wieder im Herdfeuer verschwand.
Am kommenden Morgen packte das Vorsteherlein sein Bündel und machte sich frohen Mutes auf den Weg. Es lief munter eine Zeit entlang des Flusses aus den Stadttoren hinaus, bog dann der Nase nach über steinige Wege ab, um auf felsige Anhöhen zu klettern, die in der Sonne kalkweiß schimmerten. Als es Abend wurde, erreichte es ein weites, saftig grünes Tal, in dem ein weiterer, etwas kleinerer Fluss seine Bahnen zog. Die Dämmerung hatte bereits der Nacht den Weg bereitet und wo anfangs noch Sterne funkelten, da zogen schon bald dunkle Wolken über das Himmelszelt hinab bis ins Tal. Die Füße schmerzten dem Vorsteherlein und es gedachte sich, ein Lager zu nehmen.
Plötzlich hörte es Stimmen, die drüben vom Waldesrand her zu kommen schienen. Ein kleiner Schauer schlich sich vorsichtig seinen Rücken hinunter und obschon es ängstlich ward, lies ihm seine Neugier keine Ruhe, was da wohl aus dem Walde herüber schallte. Mittlerweile war es stockfinster geworden und das Vorsteherlein gewahrte nicht weit im Wald den Widerschein eines Feuers. An den mächtigen Tannen zeichneten sich tanzende Schatten ab, die rhythmisch auf und nieder gingen. Die Stimmen verschwammen zu einem heiteren Gebrüll, dann wieder schien einer alleine zu johlen und das Vorsteherlein wagte kaum zu atmen. Es tastete sich leise vorwärts bis es, hinter einem Holzstoss versteckt, drei üble Gesellen um ein Feuer hüpfen sah. Einer war ein langer, dünner Riese mit funkelndem, faunischem Grinsen; ein zweiter von kleiner, zwergenhafter Gestalt, dessen Lächeln gefährlich in den Flammen glitzerte und der dritte ein dicker bärenhafter Kobold, dessen rote Wangen davon kündeten, dass er den Wein gut zu kennen schien. Die zuckenden Schatten der drei Gestalten rissen sich einmal riesenhaft los, ein anderes Mal zuckten sie jäh in das Zentrum des Feuers zusammen und dem Vorsteherlein ward es gar mulmig zumute in seinem Versteck. Da begannen sie zu singen:

„Freitag, Freitag eil’ herbei
Dann hat ein Ende die Schufterei
Dann singen ab fünfe wir hohl und frech
Dann feiern wir, Hossa! den TGIF.“

Dem Vorsteherlein gefror das Blut in den Adern. Angsterfüllt riss es die Augen auf und wagte kaum zu atmen. Die Drei fuhren fort

„Ach wie gut das niemand weiß,
Was TGIF wirklich heißt.
Verschlossen sind dem alle Türen,
Die durch die Müsliburge führen.“

Müsliburg! War das nicht sein Ziel, die Erlösung allen Unheils, das Wissen um die Heilung von der schrecklichen Zimpfomatose? Das Vorsteherlein schluckte würgend die Angst herunter und spitzte die Ohren. Diese drei hässlichen Kreaturen hatten möglicherweise ein Geheimnis, das zu wissen sich lohnte und in der Müsliburg Einlass gewährte. Jetzt hieß es wachsam sein

„Freitag, Freitag eil’ herbei
Dann hat ein Ende die Schufterei
Dann singen ab fünfe wir hohl und frech
Dann feiern wir, Hossa! den TGIF.“

...Schallte es ein weiteres Mal herüber, aber dann fingen die Gesellen schaurig an zu lachen und glucksend entkorkten sie eine neue Flasche Wein.

„Thanks“, rief der eine zwergenhafte,
„God“, kreischte der dicke Trottel,
„it’s“, schnalzte der Riese,
“Friday“, riefen alle drei wie wahnsinnig, den Kopf in den Nacken geworfen in den dunklen Nachthimmel hinein. Dabei streckten sie ihre Arme hoch hinauf und der Riese zerkratze sich die Hände an den Baumwipfeln. Ein Regenguss von Tannenzapfen ging hernieder und hämmerte auf das Vorsteherlein. Aber es blieb tapfer hinter dem Holzstoss und rührte sich nicht, wenngleich ihm der Rücken von den Schlägen derb schmerzte. Fröstelnd kauerte es, die Beine eng an sich gezogen da und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit an dem warmen Feuer zu sitzen und einen Schluck von dem köstlichen Wein zu trinken. „Thanks God it’s Friday – TGIF!“ flüsterte das Vorsteherlein nickend vor sich hin.
Die unheimlichen Kobolde setzten sich auf den Boden am Feuer, die Flaschen klirrten vom übermütigen Anstoßen und der Riese rief: „Na, Spertolfo, alter Narr, jetzt haben sie dich aus der Eliteschmiede davon gejagt! Hat dir wohl nicht gepasst – Forschen statt Freizeit?“
„Ach. Lass gut sein, Molliver, es hat mir wohl gefallen bei euch. Alles hat sein Für und Wider und jeder muss die Dinge, die er tut, mit innerem Ansporn ausrüsten, sonst sind sie nichts wert!“
„Wohl gesprochen, was meinst du Polenmunkpeter?“, rief der Riese zu dem trunkenen Zwerge, der halb vorne abgenickt an einer Flasche Wein nuckelte.
„Ach lass mich, elender Riese, sag lieber, was wir uns mit dem dritten und letzten Wunsch von KRIGL, dem Geist aus der Flasche wünschen sollen“, und zeigte hinüber auf eine prostataförmige, tiefgrüne Zauberflasche, die vor dem Holzstoss stand, hinter welchem sich das Vorsteherlein verbarg.
„Wir haben damit die Oberpathognomenprüfung als ersten Wunsch bestanden, als zweites die regelmäßigen Getränke zum TGIF. Und nun, was sollen wir uns noch von KRIGL, dem Flaschengeist wünschen? Der alte Knauser hat uns ja nur drei Wünsche versprochen.“ Polenmunkpeter stand auf und ging hinüber zum Holzhaufen. Das Vorsteherlein zitterte vor Angst wie Espenlaub und war sich gewiss, dass man sein ungestüm gegen die Brust schlagendes Herzchen nun weithin hören konnte, wie den Klöppel gegen die klingende Glockenwand.
„Dann lassen wir ihn eben nicht mehr aus der Flasche, Prostata noch mal!“ raunte der dicke Spertolf vom Feuer herüber. Der Polenmunkpeter hob die Flasche an und besah sich den bockig darin sitzenden KRIGL.
„Stimmt, wenn wir keinen dritten Wunsch haben, muss er für immer drin bleiben!“ Er grinste während die anderen beiden hämisch lachten und warf die Flasche wieder zurück auf den Waldboden, wo sie dem ängstlich dreinschauenden Vorsteherlein direkt vor die Füße rollte. Dem KRIGL darin war furchtbar schlecht geworden und er hatte Mühe, sich nicht in der Flasche zu übergeben, was relativ unvorteilhaft für ihn gewesen wäre. Da wurde das Vorsteherlein plötzlich Sklave seines eigenen Übermutes und griff hinter dem Holzstoss hervor nach der Flasche. Diese warf in seinen Händen einen zartgrünen Schimmer ab. Der KRIGL darin glotzte ihn wütend an und es folgten einige, recht eindeutige Drohgebärden obszönen Inhalts. Das Vorsteherlein steckte die Flasche mitsamt ihrem Geiste rasch in sein Bündel und lauschte wieder dem geistigen Marasmus der drei ungleichen Gestalten. Diese brauchten jedoch kaum mehr noch wenige Minuten, bis sie, vom Alkohol und TGIF benebelt, in einen tiefen Schlaf fielen.

Das Vorsteherlein stahl sich unter größter Mühe und Vorsicht davon, während dann im flinken Laufe der Flaschengeist in seiner Tasche von einer zur anderen Glasfläche geschmettert wurde und sich schon bald der Bewusstlosigkeit ergab. Nahe bei Flusse nahm es, noch völlig außer Atem, sein wohlverdientes Nachtlager unter einer alten Trauerweide und schloss schon bald friedlich und erschöpft die Äuglein. Kaum war es eingeschlafen, erschienen ihm im Traum plötzlich zwei Nieren. Die eine grinste diabolisch, hatte an ihrem Oberpol zwei Hörner und das Nierenbecken war zu einem Pferdefuß verengt. Über der anderen leuchtete ein Heiligenschein und am freien Rand flatterten zwei Flügelchen. Die gehörnte sprach mit gespaltener Zunge: „Vorsteherlein, sei kein Dummkopf und komm zu mir in die Gewürzburg. Ich gebe dir uneingeschränkte Macht und Gold. Was brauchst du schon Braut und Kind, wenn du all das haben kannst?“
„Tu es nicht, Vorsteherlein!“ rief da die verengelte Niere und trat mit ihrem Ureter der anderen wirkungsvoll auf den dreizackigen Schwanz, dass sogar die Nebenniere aufjaulte. „Dein Glück bleibt dir nur noch in der Müsliburg zu holen. Das Wissen über die Zimpfe und damit die Erlösung deiner Familie kannst du nicht mit Reichtum und Macht kaufen. Nur oben auf dem Schmelzberg kann dieses Geheimnis gelöst werden!“ Doch das Vorsteherlein fühlte sich von dem verlockenden Angebot magisch angezogen und sank schlaftrunken mit offenen Armen in die Richtung der Teufelsniere. Gerade als diese zugreifen wollte, erschien von oben her ein wütendes Männlein mit schlohgelbem Haar und einem Zigarillo. Das Mihatschilzchen!
„Zum Nierenstein!“ donnerte es übermächtig, „jetzt ist aber Schluss hier! Soll ich dir Beine machen? Ab in die Müsliburg oder ich hol doch noch das Kind! Da gibt man sich solche Mühe und der feine Herr...“ Ein grelles Blitzen durchfuhr den Zaubertraum und das Vorsteherlein wagte es nicht, zu widersprechen. Die Nieren verschwanden in uringelbem Nebel, und das Mihatschilzchen zündete sich schnell einen Zigarillo an, um überhaupt atmen zu können und verblasste allmählich mit einem drohenden Kopfschütteln. Dann war es still.

Der kommende Morgen war in einem ungemütlichen Nebel versunken, das Vorsteherlein wagte kaum die Augen zu öffnen und fühlte sich furchtbar klamm. Nach einer Katzenwäsche am Fluss wanderte es schnurstracks weiter flussaufwärts, bis es an einen großen See gelangte. Ein stattlicher Wegweiser trug die Aufschrift ‚Müsliburg’, ein zweiter lag glimmend, wie ein vom Blitz gefällter Baum daneben und man konnte von den einst sauber aufgemalten Buchstaben nur noch ein verkohltes ‚G..wü...rg’ erkennen. Das Vorsteherlein lächelte wissend und ging frohen Mutes weiter. Dann und wann glaubte es, die Sonne durch die dicken Nebelschwaden wahrnehmen zu können. Am Ufer des Sees beugte es sich tief hinab, denn der Durst hatte ihm die Kehle getrocknet. Es trank und trank, genoss jeden Schluck des erfrischenden, klaren Wassers und schloss, noch immer  hinabgebeugt, die Augen.
Ihm träumte von seiner lieben Braut und seinem Töchterlein, als es plötzlich von einen warmen Sonnenstrahl, der sich durch die Wolkendecke seinen Weg gebahnt hatte, berührt wurde. Wie von einem Kitzeln aufgeschreckt, blickte es nach oben und traute seinen Augen kaum. Über dem nun in der Morgensonne geglätteten, glänzenden See erhob sich nicht weit von ihm zwischen den dahin schmelzenden Nebelschwaden ein schroffer Bergrücken. Geisterhaft thronte auf einem nasenartigen Felsvorsprung mächtig und alles überschauend eine Burg, die sich zauberhaft in dem azurblauen Wasser ihr Spiegelbild suchte. Das Vorsteherlein trat einen Schritt zurück starrte ungläubig hinauf. Das musste die Müsliburg sein! Vor Freude tanzte sein Herz und raschen Schrittes erklomm es den steilen Hang hinauf, fasziniert von dem wunderbaren Flecken Erde, der sich unter ihm immer weiter ausbreitete. Am Burgtor angekommen umgab es eine unheimliche Stille. Die Mauern waren umrankt von struppigen Kletterpflanzen, die hie und da ein kleines Gitterfenster offen legten. Außer seinem raschen Atem und dem pfeifenden Wind konnte er nichts vernehmen.
Wirklich nichts? War da nicht ein Geräusch? Nein, das war der Wind...oder...halt, das war doch...ja, ein Schnarchen! Immer unverkennbarer wurde jetzt das serratierte Geräusch und nun konnte man auch erhören, woher es kam. Oben im Wachturm saß ein alter, nach vorn gebeugter Mann mit lichtem Haar. Zwischen gelegentlichem schmatzen drang unverkennbar das vibrieren einer vom Luftstrom gepeinigten Uvula nebst Gaumensegel. Das Vorsteherlein rief aus Leibeskräften: “Hallo, hört mich jemand?“
Nichts tat sich. Der Alte machte keine Bewegung. An dem Gitter zum Burghof war kein vorbeikommen, jemand musste öffnen. Immer wieder rief das Vorsteherlein. Halb demotiviert und entmutigt nahm es noch einmal alle Kraft zusammen und schrie: „Hallo! ...Haaaaalo, ich suche die Königin Erzea, ich brauche ihre Hilfe! So gewährt mir doch bitte Einlass!“
„Was brüllst du so herum und strapazierst mein zartes Trommelfell, du Knilch? Sag das doch gleich!“ erscholl da eine recht dominante Stimme. An dem anderen Wachturm schaute eine pfiffige, elegant gekleidete Frau herunter. „Wenn du jetzt so einen Quatsch wie Haare runterlassen erwartest, bist du an der falschen Adresse. Ich mach dir ganz profan das Tor auf.“
„Äh, an welcher Adresse bin ich denn überhaupt?“ fragte das Vorsteherlein, als sich das Burgtorgitter quietschend hob.
„Müsliburg, Schmelzbergstrasse. Ich bin Donna Sonya.“ Sie war bereits herab gestiegen und reichte ihm freundlich die Hand.
„Was ist noch mal dein Begehr?“ Das Vorsteherlein trat an Donna Sonya heran und sprach leidenschaftlich:
„Meine liebe Braut ist wahrscheinlich von einer schlimmen Krankheit erfasst worden. Ich habe gehört, dass hier in der Burg die Königin Erzea lebt und sie wahrscheinlich die einzige ist, die mir noch helfen kann.“
„Hmm, das wird nicht einfach für dich. Komm mal rein!“ Sie bat ihn in den Burghof, legt die Fäuste an ihre Hüften und sprach skeptisch: „Nur soviel: Du bist hier im Reich der Pathognome. Hier gelten ihre Regeln. Um zu Erzea zu gelangen, musst du eine Reihe gefährlicher Abenteuer bestehen. Um diese Burg ranken sich dunkle Gerüchte und kaum jemand von außerhalb hat sie je lebend verlassen, geschweige denn, Erzea persönlich zu Gesicht bekommen!“ Das Vorsteherlein zuckte zusammen.
„Du musst durch die finsteren Kellergewölbe des alten Pivio und seinen Mannen und dich dann Stockwerk für Stockwerk höher empor arbeiten. Bis du im schaurigen Efstockolus ankommst, der von einem alten Drachen bewacht wird. Wenn du all diese Gefahren bestehst, dann - und nur dann - kannst du bei Erzea vorsprechen.“ Sie nahm das Vorsteherlein mit ernstem Blick bei den Schultern. „Willst du das wirklich?“
Wie aus weiter Ferne drangen die Worte nun an sein Ohr, während die Hoffnung schwand. Wieder sah es in Gedanken seine liebe Braut und das Töchterlein vor sich, ganz zu schweigen von den bereits bestandenen Gefahren und Abenteuern. Dann aber scharrte das Vorsteherlein all seinen Mut zusammen, der für ein kräftiges Nicken ausreichte.
„Also gut“, sagte Donna Sonya. „Hier geht’s rein. Viel Glück, du todesmutiger Narr!“ Sie schloss ihm eine schwere Eichentür auf und ließ ihn ein. Hinter sich hörte er die Tür ächzend ins Schloss fallen. Jetzt war er allein.

An der Wand hing zwischen zwei riesigen Fackeln glänzend ein überdimensionaler Buchstabe.
„B...bb...bbb“ murmelte das Vorsteherlein und hörte sein Echo in den Gedärmen des Burggewölbes widerhallen. „Richtig...richtig...richtig“, antwortete plötzlich das Echo einer tiefen Stimme und schlürfend kamen Schritte gefährlich und dröhnend langsam näher.
„Was willst du hier?“ fragte donnernd die gleiche Stimme, diesmal schon ohne einen Nachhall und erschreckend dicht bei ihm erklingend. An den Wänden des schmalen Treppenganges tastete sich bedrohlich ein schwarzer Schatten entlang. Die feuchten Mauern schimmerten im Feuerschein der Fackel. Da stand plötzlich ein grobschlächtiger, schwarzer Mann mit osmanischem Gesichtsausdruck vor ihm, von dem man aber vor lauter Haaren nicht viel sehen konnte. Daneben wurde dem Vorsteherlein eine hübsche kleine Pathognomin gewahr, die ihn frech anstarrte.
„Das ist Al Memes.“ wisperte sie, „keine Angst, er ist als Kind in einen Trog mit Rotwein der Testos-Traube gefallen und hatte so einen ziemlich zügigen Stimmbruch. Aber sonst ist er ganz in Ordnung. Ich bin GUNA, aber wehe du nennst mich Naddel, dann wirst du obduziert.“
„O.k., Nad...äh, meine Liebe.“ antwortete das verblüffte Vorsteherlein ob der eigenartigen Erscheinung.
„Bernord ist nicht da. Urlaub in China.“ Das Vorsteherlein war perplex. Da waren Antworten auf Fragen, die es noch gar nicht kannte oder gar für möglich gehalten hatte.
„Ich muss zu Erzea. Könnt ihr mir helfen?“
„Ha, da könnte ja jeder kommen!“ schnauzte Al Memes, „Schwirr ab, sonst kannst du hier den Darm ausräumen!“ Dem Vorsteherlein würde übel.
„Gibt es den keine andere Möglichkeit?“ fragte es ängstlich. „Na gut“ sagte GUNA, die nun Al Memes beruhigend den Bart kraulte, was ihm sichtlich zu gefallen schien. „Wenn du uns sagst, was TGIF heißt, dann bringen wir dich zu unserem Boss.“ Sie lachte hämisch, denn niemand hatte je hier unten diese Frage beantworten können. „Wenn nicht, dann troll dich. Al Memes hat schon die Messer gewetzt und wir schauen mal was dir wirklich fehlt!“
TGIF...TGIF...TGIF...arbeitete es im Kopf des Vorsteherleins. War das nicht der Trinkspruch oder etwas aus diesem Liedchen der Drei im Walde? Und es hörte in seinen tiefsten Gyri erneut die Strophe tänzeln:

„Ach wie gut das niemand weiß,

Was TGIF wirklich heißt.

Verschlossen sind dem alle Türen,

Die durch die Müsliburge führen.“

Das war es!
„Thanks God it’s Friday!“ platzte es aus ihm heraus. Vier Augenpaare, zwei davon von schwarz-buschigem Flechtwerk umgeben, starrten ihn fassungslos an. „Woher weißt du das?“ stammelten die beiden.
„Das tut nichts zur Sache, Leute. Auf geht’s. Versprochen ist versprochen!“
Und so gaben die beiden dem Vorsteherlein ihr Geleit die finstere Kellertreppe hinab und sie mussten gut Acht geben, da alles sehr feucht und rutschig schien. An den Wänden sah es Leichenteile in Gläsern und Tupperdosen. Auch waren ganze Krankheiten auf großen Schalen dargeboten. Obwohl alles eine gewisse Ordnung zu haben schien, schlotterten dem Vorsteherlein die Knie. An einem kleinen Fluss angekommen, stiegen sie auf ein Floss und Al Memes stakte es hinüber auf die andere Seite.
„So, mein Junge. Das war der Fluss PathoPryx, eine echte Hürde, die kaum jemand durchschaut. Ab hier ist es einzig und allein Pivios Reich, nur er kennt sich damit noch aus. Wir können nicht mehr weiter mit dir kommen. Ab hier beginnt das ‚Theatrum Anatomicum’.
Das Vorsteherlein stieg aus und bedankte sich. „Das Danke kannst du dir sparen. Du wirst dir noch wünschen, niemals von uns hierher gebracht worden zu sein!“ rief Al Memes in seiner unverwechselbar liebevollen Art.

Die beiden legten wieder ab und das Vorsteherlein trollte sich seines Weges. Nach wenigen Metern kam es an großen, steinernen Tischen vorbei auf denen blitzblank geputzte Messer, Scheren und anderes Besteck im fahlen Licht aufblinkten. Auf manchen der Tische lagen, von weißen und grünen Laken bedeckt, reglose Körper. Bis auf die von den Wänden widerhallenden Schritte herrschte im wahrsten Sinne des Wortes eine Totenstille. An einem der letzten Tische gelehnt war ein Mann von kleiner Statur zu sehen, ein wenig gebückt und mit dem Rücken zu ihm. Als das Vorsteherlein näher trat, hörte es ein bekanntes Geräusch. Es war das gleiche sägeartige Schnarchen wie von dem Mann auf dem Wachturm. Und tatsächlich, als sich das Vorsteherlein räusperte und sich der kurz zusammenzuckende Alte umdrehte, erkannte er ihn wieder. Der bebrillte Mann stand jetzt in voller Pracht vor ihm und trug einen weißen langen Kittel, darunter Hemd und Hose, die an schicken Hosenträgern baumelten. Um ihn herum flatterten unbeholfen ein paar UHU’s. Ein schmales Lächeln huschte über seine Lippen. Aber er sagte kein Wort.
„Hallo, ich bin das Vorsteherlein und möchte zu Erzea. Meine Braut ist krank und...“
„Hm.“ machte der Alte.
„...und nur sie kann uns noch helfen.“
„Hm.“ Wiederholte er.
„Weißt du, wie ich sie finden kann?“
„Hm.“ war erneut die Antwort. Wohl an, das könnte sich ein bisschen hin ziehen, gedachte das Vorsteherlein zu der etwas viskösen Kommunikation. Jetzt hieß es zielstrebig vorgehen, nur Ja/Nein-Fragen, keine komplexe Satzstellung und so weiter.
„Bin ich da auf dem richtigen Weg?“
„Hm.“ ... „Du bist quasi am Ziel junger Freund. Leg dich her, damit ich herausfinde, was dir fehlt!“ sagte der Alte und wetzte dabei ein Messer. Von der reichhaltigen Antwort beeindruckt, erwiderte das Vorsteherlein geistesgegenwärtig: „Ähem, ich bin noch nicht tot.“ Pivio riss die Augen auf und murmelte: „Krank, aber nicht tot?“
„Nein, gesund, aber nicht tot!“ antwortete keck das Vorsteherlein.
„Hm.“
Zähflüssig rann die Zeit dahin. Pivio legte das Messer beiseite, schien zu überlegen und sagte: „Hm.“ Wieder geschah nichts. Dann, wie erweckt, erwiderte er plötzlich: „Dann bist du hier falsch. Zu mir werden nur die kalten Kranken gebracht. Du musst in die Biopsie-Abteilung! Du hast sicher Frischmaterial dabei.“
Wellen der Erleichterung durchströmten das Vorsteherlein. Damit hatte es nicht gerechnet. Was es auch immer mit dem Frischmaterial auf sich hatte, es könnte der Weg nach oben, zum ersehnten Ziel sein.
„Ich hab dich doch vorhin auf dem Wachturm schon unten herumstehen sehen. Dachte, du bist einer von diesen, diesen UHU’s!“
‚Jetzt verkehren diese Pathognome auch schon mit Vögeln’, ging es dem Vorsteherlein durch den Sinn, ‚Es wird immer verrückter.’
Pivio schlich mit einem großen Schlüsselbund in der Hand voraus durch die schwach erleuchteten Gänge, vorbei an einem bestuhlten Rondell, in dessen Zentrum ein schwerer Tisch sein Dasein fristete.
‚Das ‚Theatrum Anatomicum’ ’, dachte das Vorsteherlein ehrfürchtig. ‚Hier ist der Urquell ihres Wissens.’ Und als hätte es die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen, sprach Pivio, angekommen an einer lividen Flügeltür:
„Korrekt, mein Junge! Aber das hier unten ist nur die halbe Wahrheit. Die andere liegt in einer viel kleineren Mikrowelt, die wir mit bloßem Auge nicht mehr sehen können.“ Er aktivierte ein Knöpfchen und hinter der Türe konnte man eine Maschinerie arbeiten hören. Die Tür öffnete sich quietschend und das Vorsteherlein trat in den kleinen Aufzug. Pivio drückte einen Knopf mit einem großen C. Er blieb draußen im Dämmerlicht stehen, verabschiedete sich mit einem freundlichen „Hm!“ und die Tür schloss sich langsam zwischen den beiden. Das Gefährt setzte sich vibrierend in Bewegung.
Als die Tür sich wieder öffnete, verschlug es dem Vorsteherlein fast den Atem. Ein buntes Treiben ging da draußen vor sich, überall liefen emsige Pathognome herum und ließen sich durch den Fremdling nicht aus der Ruhe bringen. Sie hatten sich also in der Burg kleine Gänge gegraben, Schächte ausgehoben, Treppchen angelegt und fuhren mit putzigen Aufzügen auf und ab. Das Vorsteherlein bog in einen Gang hinein und wurde fast von einer kleinen Pathognomin, die einen riesigen Stapel Pappbrettchen vor sich hertrug, umgerannt.
„Hey, was bist du denn für einer?“ rief sie und der Bretterstapel wankte gefährlich der Schwerkraft entgegen. „Ein Vorsteherlein!“ erwiderte es, sichtlich beeindruckt von der Balancefähigkeit dieses Wesens. „Hallo, ich bin INDE, der Hauself!“ sprach sie, setzte den Stapel ab und reichte ihm freundlich die Hand. Auf ihrem Leibchen blinkten vier große Buchstaben: CUBA. Wahrscheinlich wieder so eine Abkürzung. Das schienen die Pathognome ja zu lieben.
„Was machst du hier?“ fragte sie.
„Meine Braut ist krank und ich suche, na ja, also ich suche eigentlich ihre Krankheit, damit sie geheilt werden kann. Angeblich liegt die Lösung hier bei eurer Chefin.“
„Don Priono? Aber das ist ein Typ!“
„Nein, ich hörte von einer gewissen Erzea!“
„Ach, so, Queen Mum, die Königin. Ja, in der Tat, sie weiß viel. Redet auch nicht so abgehackt wie Don Priono. Ich hoffe, du hast ein paar Schnitte dabei, dann kann sie dir sicher helfen.“
„Schnitte?“ fragte erstaunt das Vorsteherlein.
„Klar, wie soll sie denn sonst was raus finden? Gewebe, Einsendung, Probeexzision, irgendwas, das sie sich anschauen kann!“ parierte INDE.
„Leider nein, aber...ich muss erst einmal zu ihr. Könntest du mir dabei helfen?“ fragte das Vorsteherlein.
„Na komm mal mit. Vielleicht kann ich dich hier unbemerkt ein bisschen durchschleusen.“ Die beiden huschten vorsichtig die langen Gänge und Flure entlang und INDE erzählte munter von dem Leben der Pathognome.
„Naja, und als sie das hier alles gebaut hatten, begannen sie, die Krankheiten zu studieren. Erst an Toten, dann aber auch an Teilen von Lebenden, vor allem Menschen.“
„Menschen?“
„Gewiss, die ahnen ja nichts von alledem hier. Die Pathognome stehen über einige wenige Zauberer, Heiler, Hexen, Barbiere und Bademeister mit ihnen in Verbindung. Stell dir vor, die senden von draußen kleine und große Stücken von Krankheiten hier herein, die werden dann zerschnitten, in Kerzenwachs gegossen und von den fleißigen Heitzelweibchen oben im Efstockolus in feine Scheibchen geschnitten. Und dann...“, jetzt machte INDE eine eigenartige Bewegung und hielt sich Daumen und Zeigefinger zum Kreis geschlossen vor die Augen, „und dann bekommen es die Hilfs- und Obergnome. Sie haben unheimliche Apparaturen, bestückt mit wundersamen Linsen, die alles vielfach vergrößern und mit denen man in die Krankheiten hinein sehen kann und ihnen letztendlich auf die Schliche kommt. Sie nennen es mikroskopieren. Das ist ihr Geheimnis!“ Sie hob den Zeigefinger, aber schon im nächsten Moment glitt ihre Hand geheimnisvoll zum Mund. „Das darfst du aber bitte niemandem verraten. Ich hab schon wieder zuviel gequatscht. Ich könnt mich aber auch...“
Da kam plötzlich mit klappernden Schuhen eine aschfahle Obergnomin durch den Gang. Ihr tief schwarzes Haar machte das freundliche Gesicht noch blasser. INDE und das Vorsteherlein verschwanden hinter einer breiten Säule und pressten sich eng mit dem Rücken dagegen. Als die Obergnomin vorbei war, fragte das Vorsteherlein: „Wer war das denn? Ganz schön ungesunde Gesichtsfarbe!“
„Ich glaube, die kam gerade von einem dieser Bademeister- oder Heilerkränzchen. Die führen sich immer dermaßen auf da. Ist völlig ragetisiert, die Arme.“
Sie schlichen eine Treppe höher und INDE erzählte munter weiter: „Ja und ansonsten wir machen alles selbst hier. Manche FISHen, wir haben drei Zimmermänner, einen Tischler, einen Jäger, einen Weber, einen Struckmann und sogar einen Soltermann!“ zählte sie an ihren Fingern auf.
„Für was braucht man den gleich noch mal?“ gab das Vorsteherlein fragend zurück.
„Hm, gute Frage!? Was weiß ich, jedenfalls ist alles ziemlich durchorganisiert, auch wenn einem das häufig gar nicht gleich so ins Auge fällt. Fleißig wie die Bienchen, selbst manche von den Hilfsgnomen. Stell dir vor, wir erschufen sogar eine Schreibstube! Ob du es glaubst oder nicht, sie wird von einem weiblichen Rehmann angeführt.“
„Ein weiblicher Rehmann?“ fragte das Vorsteherlein ungläubig.
„Ja, die Pathognome haben sie vor langer Zeit kaum einen Hirschsprung weit von hier im Wald gefunden. Und dieser Fluss, der Pathopryx, den ihr unten bei Pivio überquert habt, ist quasi ein alles durchsetzender Strom, mit jedem und allem in Verbindung zur Weiterleitung von Informationen. Zwei drollige Informognome halten alles in Schuss. Kleine Seitenarme führen von den Pathognomen bis in die Schreibstuben, wo dann die Schriftrollen angefertigt und zu den Heilern nach draußen versandt werden.“ entäußerte sich der Hauself. „So jetzt sind wir am Orakel angekommen.“
Das Vorsteherlein wurde still und flüsterte verblüfft: „Jetzt sag bloß noch, sie schauen auch in die Zukunft!“
„Naja, nicht direkt. Aber sie forschen an Dingen herum, die in der Gegenwart noch nicht ganz klar sind und es aber in Zukunft sein sollten. Deshalb nennen sie es progress report. Bei manchen aber mehr ein fauler Zauber, unberechtigte Sicherheit und berechtigte Unsicherheit.“
Von drinnen schallte ein geheimnisvolles Orakeln durch die Pforte. „...SABA, SABA, SABA...“, konnte man es hören.
„SABA? Was ist das denn nun schon wieder?“ flüsterte das Vorsteherlein. „Sicheres Auftreten Bei Ahnungslosigkeit“, antwortete INDE, als es drinnen still wurde. Wie von Zauberhand wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Zwei dutzend Augen starrten die beiden Erschrockenen an. „Komm schnell weg hier!“ fiepste INDE und rannte den Gang davon. Das Vorsteherlein konnte sich jedoch nicht rühren. Wie versteinert stand es vor den Ober- und Hilfsgnomen, die eine wichtige Miene aufgesetzt hatten.
„Was gibt es hier zu lauschen, mein Herr?“ fragte eine Pathognomin mit strengem Blick, Brille und buntem Gesicht, die sich bedrohlich im Türrahmen aufgebaut hatte.
„Äh, nichts, liebes Orakel, ich hab nur, äh Frischmaterial!“ antwortete es geistesgegenwärtig.
„Dann bist du hier falsch! Oder kannst du uns etwa sagen, was passiert, wenn seltene Krankheiten zu wenig diagnostiziert werden? Hmm?“ fragte die Frau, die auch sehr bunte Sachen anhatte.
„Ddddaadaann werden sie noch seltener!“ rief das Vorsteherlein, und im nächsten Moment glitt es vor Aufregung tief hinab in das Meer aus Bewusstlosigkeit.

Schwebend, wie auf weichen Wellen trug es der Traum schwerelos durch eine blühende Landschaft. Bald wurde es von einem Reigen duftender Blüten umgeben, die es wieder und wieder sanft streiften und ein Wohlgefühl auslösten. Aus einer Blumenwolke tropfte wenig später ein Chor aus lieblichen Worten an das Ohr des Vorsteherleins:

„Wir schweben durch die Nierenbecken,
Tubuli und Glomerula.
Wir finden auch den kleinsten Schrecken,
Zur Heilung der Nephro-Renia.“

Das Vorsteherlein lächelte benebelt. Die Worte drangen zu ihm wie aus weiter Ferne und drei Frauen schwebten wie schwerelos zu ihm heran. „Wir haben von deiner Not gehört, tapferes Vorsteherlein“, säuselte die eine. „Das Mihatschilzchen hat uns berichtet“, flüsterte eine andere. „Auch wir sind Nephromaninnen. Wir sind Ariana, Doris und Juliane“, zirpte die Dritte.
„Alle drei auf einmal?“ hauchte das Vorsteherlein wie benebelt zurück. Die Drei sahen sich unverständlich an. Dem Vorsteherlein wurden wieder die Gedanken schwer. „Wir können dir bis in das nächste Stockwerk helfen. Leider ist uns der Zutritt bis ganz hinauf versperrt.“
„Das wäre wirklich eine auserlesene Güte, die mir zuteil werden würde. Aber ich kann euch nicht alle drei als Erstautoren mit auf ein Paper setzen.“ raunte das Vorsteherlein schwach. Die drei lächelten lammfromm: „Das brauchst du nicht. Nierenjournale haben keinen Impactfactor über 8.“
So zogen sie ihn durch das süß duftende Blütenmeer. „Wir bringen dich in unsere Giftküche. Natürlich werden dort nicht nur Gifte gebraut, sondern alles was man braucht, wenn man mit normalen Mitteln nicht mehr weiter kommt. Vielleicht hin und wieder auch ein Nephrodisiakum.“ Und wieder lächelten die drei Nephromaninnen, setzten das Vorsteherlein vor einer Tür mit der Aufschrift ‚Immunhistochemie’ ab und verschwanden so geheimnisvoll, wie sie gekommen waren.

Als das Vorsteherlein erwachte, war es umringt von freundlich dreinblickenden Kräuterfeen. „Wen haben wir denn da?“ sprach die eine, die den größten Löffel in der Hand hielt und ein Schildchen am Umhang hatte, auf dem SAHNER stand, was für das Vorsteherlein bereits ein gewisses kulinarisches Urvertrauen aufkeimen ließ.
„Ich, ich bin das Vorsteherlein und suche eine Krankheit, die wahrscheinlich Zimpfomatose heißt.“
„Zimpfomatose, Zimpfomatose...“ wiederholte das einzige Kräutermännlein im Bunde, das wie ein Kanarienvogel zwischen den anderen wirkte. „Haben wir dafür einen Antikörper?“ Alle schüttelten ahnungslos den Kopf.
„Nein FIAN. Da muss er schon hinauf zu Erzea. Sie ist die einzige, die ihm möglicherweise weiterhelfen kann.“
„Aber wie soll ich denn dahin kommen?“ rief das Vorsteherlein traurig.
„Du bist nahe am Ziel, mein Freund! Ich will dir etwas mit auf den Weg geben.“ hauchte SAHNER sanft. „Meltheresiris, braut ihm einen kleinen Flakon auf mit dem...“ und sie schnipste wissend mit den Fingern und ihre Augen leuchteten, „na ihr wisst schon!“ Die Kräuterfeen wirbelten, Phantasmen gleich, herum und Minuten später, konnte sich das Vorsteherlein ein kleines Fläschchen eines eigenartigen Gebräus einstecken. „Das wird dir sehr behilflich sein, wenn du in ihre Nähe kommst!“ sprach SAHNER weise. „Und nun verlier keine Zeit mehr und erwache aus deiner Schlaftrunkenheit! Viel Glück und machs gut!“

Einen Augenblick später stand das Vorsteherlein wieder mutterseelenallein im Gang, der hier oben ein wenig heller schien. Durchflutendes Sonnenlicht fiel, die Wände und den Boden erleuchtend, herein und es war dem Vorsteherlein wie ein nahender Horizont. Ein liebliches Säuseln drang an sein Ohr und als es dem folgte, wurde das Säuseln zu einem Wispern. Das Vorsteherlein stieg eine weitere steile Treppe empor, als es einer Stimme gewahr wurde, die aus der Wand zu kommen schien

„Zu hilf, zu hilf
Oh rette mich, Herr!
So außer Betrieb
Nütz ich keinem so sehr!“

„Wie kann ich dir helfen?“ fragte das Vorsteherlein, sichtlich um eine gute Tat bemüht. „Ich bin die Schnittablage“, kam es erneut aus der Wand, „Ich bin außer Betrieb. Bitte, bitte repariere mich!“ Da öffnete sich wie von Geisterhand eine Tür in der Wand und gab die Sicht auf ein kompliziert anmutendes Mechanicum mit Rädern, Schienchen, Wägelchen, Kabeln und Zahnrädern frei, das sich irgendwie verhakt hatte. Das Vorsteherlein erkannte das Problem, setzte alles an seine korrekte Stelle zurück und sprach: „Das sieht mir aber sehr anfällig aus hier. Die Evolution hat bei dir wohl eine gewisse Sorglosigkeit an den Tag gelegt?“
„Ja, ich bin leider an einem Freitag nach 17.00 gemacht worden. Aber hab dank edler Fremder!“ sprach die Schnittablage.
An einem hellen Saale angekommen, trat das Vorsteherlein nun ein und konnte ein redliches Treiben beobachten. In putzigen weißen Kittelchen arbeiteten fleißige Heitzelweibchen und Hilfsgnome, es wurde geschnitten und geraspelt, geschmolzen und gefärbt und überall lagen kleine, eingeblockte Krankheiten herum. Manche von ihnen waren auch in Tupperdosen gefangen, ähnlich denen in Pivios Reich. Niemand schien von dem Vorsteherlein Notiz zu nehmen, als es wiederum ein trauriges Stimmchen hörte:

„Zu hilf, zu hilf
Oh rette mich, Herr!
Bleib ich so groß,
Nütz ich keinem so sehr!“

„Wie kann ich dir helfen?“ erkundigte sich das Vorsteherlein. „Ich bin ein zu groß geschnittener Block.“ sprach es da von einem sonst leeren Tische her. „Wenn ich so bleibe, werde ich bei der weiteren Aufarbeitung zerreißen und bin für die Diagnostik völlig wertlos!“ Das Vorsteherlein nahm den Block, schmolz und schnitt ihn zurecht und bettete ihn fürsorglich wieder ein. „Das sah mir aber sehr schludrig aus. Da hat wohl jemand bei dir eine gewisse Sorglosigkeit an den Tag gelegt?“
„Ja, ich bin leider an einem Vormittag gemacht worden, an dem extrem viel zu zuschneiden war. Die Konzentration...“, der Block blickte traurig zu Boden. „.Aber hab dank, edler Fremder!“
Das Vorsteherlein war kaum wenige Meter weiter in eine Nische gegangen, da hörte es wieder ein leises Wimmern und vor ihm stand ein ofenartiger Kasten, aus dem es rief:

„Zu hilf, zu hilf
Oh rette mich, Herr!
Erfrier ich hier,
Nütz ich keinem so sehr!“

„Wie kann ich dir helfen?“ fragte das Vorsteherlein, erneut um eine gute Tat bemüht. „Ich bin ein Schnellschnitt im Kryostat. Bitte rette mich vor dem sicheren Kältetod.“ Der Kryostat zeigt bereits minus 50 Grad Celsius an. Schnell nahm das Vorsteherlein den Schnellschnitt aus der Vorrichtung. „Das ist aber unvorsichtig von dir. Hätte ins Auge gehen können!“ sagte das Vorsteherlein.
„Ich kann nichts dafür“ erwiderte der Schnellschnitt, „die Hilfsgnome und Heitzelweibchen sind in der Pause und haben mich hier vergessen. Dabei bin ich relativ dringend! Sag mal, kannst du mich noch schnell färben? Erzea muss jeden Augenblick hier oben im Efstockolus sein!“
Dem Vorsteherlein gefror das Blut in den Adern. ‚Efstockolus? Erzea? Wie war das nur möglich?’ Da erscholl hinter ihm eine donnernde Stimme, gefolgt von markerschütterndem Schnauben, Flammen und Rauch. Blitzschnell drehte es sich um.
„Heiliger Strohsack! Der Drachen!“ kam es ihm über die Lippen.
„Was hast du hier verloren in meinem Reich, du Nichtsnutz, elender Winzling?“ brüllte das Untier. „Und was vergreifst du dich an meinen Utensilien? Was richtig und falsch ist, bestimme hier oben immer noch ich, du Knilch!“ und eine Stichflamme feuerte haarscharf an der linken Schulter des Vorsteherleins vorbei, so dass es sein Bündel verlor und dieses auf den Boden fiel. Da kullerte plötzlich eine grüne prostataförmige Flasche heraus und stieß scheppernd gegen den Kryostaten. Der Drachen kam näher und holte schon zum nächsten Feuerstoss Luft, während sich seine Nüstern blaugrün verfärbten. Das Vorsteherlein warf sich hinüber zu der Flasche und eine weitere Stichflamme verfehlte nur knapp ihr Ziel. Es nahm die Flasche und sah den darin sitzenden KRIGL, dem schon wieder ganz taumelig zumute war. Die Angst hatte dem Vorsteherlein die Kehle trockengelegt und so bekam es kaum die Worte an den Flaschengeist heraus:
„KRIGL in der Flasche, bitte hilf mir, im Namen der Prostata – erscheine!“ Kaum hatte es dies ausgerufen, da entfuhr aus der tiefgrünen Flasche ein blauer Dampf. Zischend entstieg der Nebel zu einer dichten Wolke, auf der oben mit verschränkten Armen der Flaschengeist in kariertem Pulli und einem lustigen Bärtchen saß.
„Ruhig Brauner!“ rief er vorerst dem erstaunt dreinschauenden Drachen zu. „Ich muss kurz verhandeln!“ Dann wandte er sich zum Vorsteherlein und blickte ihn mit hochgezogener linker Augenbraue an.
„Wir zwei beiden sollten mal kurz was klären. Die Idioten, vor denen du mich im Wald gerettet hast, hatten noch genau einen Wunsch frei. Das muss nicht unbedingt auch gleich für dich gelten, aber ich will mal nicht so sein. Wenn du mir...“
„Welcher Impact Factor?“ unterbrach das Vorsteherlein vorausschauend.
In KRIGLS Augen leuchteten ein paar Fragezeichen. „Unterbrich mich gefälligst nicht! Ich wollte sagen, wenn du mir dein Wort gibst, dass dies der letzte Wunsch war und ich frei bin zu gehen, wohin ich will!“ Im selben Moment wollte der Drachen wieder loslegen und stampfte ohrenbetäubend auf den Boden, da er sich ein wenig ignoriert vorkam. Rasch nickte das Vorsteherlein zustimmend und schon war KRIGL zur Stelle: „Also, sag schnell, mein Junge, was ist dein Begehr, damit Fiffi hier mal Ruhe gibt! Ich versteh’ das gar nicht, eigentlich ist er sonst ganz nett.“
„Ich, ich will doch nur zu Erzea! Bitte Flaschengeist, beschütz mich einfach vor dem Ungetüm!“ bettelte das Vorsteherlein.
Da verwandelte KRIGL den Drachen mit dem Zauberspruch: „Tissue Array Starzitus!“ in Frischgewebe. „So, jetzt bekommt er noch ne G-Nummer und dann kannst du das Ganze runter in die Schraml-Bank bringen, damit die auch was von dem Märchen hier haben.“ schnalzte KRIGL. Kaum hatte er diese Sätze gesprochen, als sich die Tür öffnete und eine ehrwürdige Pathognomin in weißem Gewand eintrat. Sie machte eine abwinkende Handbewegung und KRIGL stieg von der albernen Wolke, nahm seine Flasche, grüsste kurz und ging des Weges. Dann wandte sie sich dem Neuankömmling zu.
„Nun mein Junge, ich bin Erzea. Ich habe bereits von dir gehört. Du hast dich ja eindrucksvoll bis hierher durchgeschlagen und einige gute Taten vollbracht. Das mit der Schnittablage war eine beachtenswerte Leistung. Und sieh mal!“ Sie zeigte auf den Schnellschnitt. „Weißt du was das ist?“
„Ein Schnellschnitt?!“ antwortete das Vorsteherlein.
„Klugscheißer!“ zischte Erzea. „Klar ein Schnellschnitt. Aber er ist...“, und sie machte eine ehrwürdige Pause, „von deiner Liebsten. Das Mihatschilzchen hat ihn geschickt. Du bist natürlich wieder mal völlig ohne Gewebe hier aufgetaucht.“ Das Vorsteherlein blickte schuldbewusst zu Boden.
Es begann, den Schnitt einzufärben und Erzea setzte sich. „Na dann wollen wir mal.“ Sie zog ein riesiges, mit zahlreichen Siegeln und Metallornamenten beschlagenes Buch aus dem Regal.
„Das ‚Sepulchretum’.“ sagte sie in achtungsvollem Ton und begann darin zu blättern. Es duftete nach altem Papier, an dem die Zeit genagt hatte und auf manchen Seiten musste sie den Staub davon hauchen. „Zimpfe, Zimpfom, Zimpfomatosis vulgaris...“, las sie halblaut vor sich hin, „mmh, mmh...ich erinnere mich. War das nicht...?“ und sie fuhr sich durch das Haar.
„Na schauen wir mal ins Mikroskop.“ Sie blickte lange und ausdauernd durch die Okulare und schüttelte immer wieder den Kopf. Auch im Buch war nur ein kleiner Abschnitt zu dem Thema erkennbar. „In diesem Buch stehen manche Dinge zwischen den Zeilen“, sagte sie geheimnisvoll. „Und nicht jeder kann das lesen. Auch ich bin mittlerweile älter geworden und es...es fällt mir einfach schwer, mich zu erinnern. Es gab da mal so einen Fall...“ Sie grub den Kopf in ihre erfahrenen Hände.
Das Vorsteherlein stand traurig und doch unruhig daneben. Es kramte verbittert in seinen Hosentaschen herum und wurde plötzlich eines kleinen Fläschchens gewahr, das sich noch von den Kräuterfeen in seinem Besitz befand. Gedankenlos umklammerte es den Flakon und spielte damit herum, drehte ihn in der Hosentasche von links nach rechts und zog ihn schließlich heraus. Erzea trommelte mit den Fingern und rief donnernd:
„Gottfriedstutz, do stimmt doch öbis nöd!“ Das Vorsteherlein erschrak fürchterlich und das krampfige Knäuel aus Hand und Fläschchen wurde explosionsartig aufgerissen. Man konnte noch ein klirrendes Brechen von Glas vernehmen, gefolgt von einem leisen Zischen, als vom Boden her eine feine bläuliche Rauchsäule zwischen den Scherben aufstieg und den Weg in die Richtung von Erzeas Nase fand. Entgeistert starrte Erzea das Vorsteherlein an.
„Was, um Himmels Willen war das?“ fragte sie erstaunt, rieb sich Nase und Augen und war kurz davor, zu niesen. Sie begann tranceartig zu verharren, die Pupillen wurden starr, während sich die Augäpfel zu beachtlicher Größe weiteten.
„Warum hast du so große Augen?“ rief das Vorsteherlein.
„Damit ich hier drin besser sehen kann!“ antwortete Erzea mit eigenartiger, fast abwesender Stimme.
Sie legte das ‚Sepulchretum’ neben das Frischmaterial, welches das Mihatschilzchen eingesandt hatte. Angestrengt begutachtete sie das Gewebe von allen Seiten.
Auch ihre Gesichtspartie zeigte angespannte Sensibilität und die Nasenlöcher weiteten sich beachtlich beim einatmen.
„Warum hast du so eine große Nase?“ kreischte das Vorsteherlein.
„Damit ich das hier besser wahrnehmen kann!“ gab sie dumpf und hochkonzentriert zur Antwort.
Unter dem Kittel schienen sich aus den Ärmeln hervor die Hände und Finger nervös vibrierend, in absoluter Feinfühligkeit und Konzentration fast unmerklich zu verlängern.
„Warum hast du so große Hände?“ winselte das Vorsteherlein
„Damit ich das hier besser fühlen kann! Ein Pathognom muss alle seine Sinne scharf anwenden!“ rief sie wie aus einer anderen Welt. Im ‚Sepulchretum’ schienen plötzlich die Buchstaben und Wörter über dem Papier zu schweben und man konnte meinen, es fänden sich darunter noch andere, fremdartige Schriftzeichen. Erzea las angespannt, starrte dann abwechselnd in das Mikroskop während sie wie wild mit dem Objektträger herumfuhr und rief:
„Schnell, man bringe mir Donna Bodeata herbei! Ohne unsere erfahrenen Zytognome kommt man hier einfach nicht weiter.“
Wenig später erschien eine große Frau mit kurzem Haar, die in einem fremdländischen Dialekt fragte: „Ein spannender Fall?“
Ohne zu zögern begutachtete sie zusammen mit Erzea, die allmählich wieder normale Formen annahm, das Gewebe unterm Mikroskop. Die beiden nickten sich zu, zeigten auf die schwebenden Wörter im ‚Sepulchretum’ als blätterten sie geradezu darin, tuschelten kaum aussprechbare Fachsimpeleien und dann, nach einem sich ins unermessliche steigerndem Schweigen, platze Erzea heraus:
„Alles ist gut mein Junge! Nichts Ernstes – das ist alles nur reaktiv!“
„Was bedeutet das?“ stammelte das Vorsteherlein zitternd.
„Restitutio ad integrum. In kürzester Zeit werden alle Symptome verschwunden sein. Nur manchmal bleiben die Hühnerfüße.“ Das Vorsteherlein wurde blass.
„Kleiner Spaß! Deine liebe Braut wird keinen Schaden davon tragen. Wahrscheinlich hat ihr die Ruhe schon gut getan und die Zimpfe bereits wieder entspannt.“
„Über eine Zimpfektomie könntest du mal nachdenken.“ empfahl Donna Bodeata.
„Und auch darüber, ob du nicht vielleicht bei uns bleiben möchtest“ sagte Erzea mit ernster Miene. „Jemanden tapferen wie dich könnten wir hier gut gebrauchen. Die Müsliburg könnte hier und dort ein wenig entheitzt werden. Deine Braut und dein Töchterlein kannst du selbstverständlich mit in dieses Königreich bringen. Man wird gut für sie sorgen.“ Das Vorsteherlein dachte eine Weile nach.
‚Warum eigentlich nicht? Kein schlechter Ort, um selber Pathognom zu werden oder Paper zu schreiben. Irgendwann würde es dann heißen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann diagnostizieren sie noch heute.’ Das klang nicht übel.
Die drei verließen den Efstockulus. Nur in der Schnellschnittnische auf dem Boden neben dem Mikroskop, lagen noch, ein wenig schwelend und dampfend ein paar Scherben herum. Auf einer war auf vergilbtem Papier, in alten, verschnörkelten Lettern zu lesen:

                                                                             PTEN.